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Unsere ungerechte Impf-Triage

Von Adriano Mannino, Korbinian Rüger, Nikil Mukerji und Albrecht von Müller



Zwei Menschen ertrinken, zwei Rettungsringe liegen am Ufer. Soll man beide einer einzigen Person zuwerfen? So sieht die deutsche Impfstrategie aus.


Zwei Menschen sind in einen Fluss gefallen und drohen zu ertrinken. Am Ufer liegen zwei Rettungsringe. Sie können jedem der beiden Ertrinkenden einen Ring zuwerfen, sodass sich beide mit hoher Wahrscheinlichkeit über Wasser halten und überleben werden. Sie können aber auch beide Rettungsringe einer Person zuwerfen. In diesem Fall würde sich die Überlebenschance dieser Person noch verbessern, doch die andere Person würde wahrscheinlich ertrinken. Wie sollten Sie sich entscheiden?


Vielleicht halten Sie diese Frage für einen schlechten Scherz. Wer käme auf die Idee, eine Person ertrinken zu lassen, um einer anderen Person, die bereits mit einem Rettungsring versorgt ist, einen zweiten zuzuwerfen? Das wäre himmelschreiend ungerecht. Außerdem wäre es höchst ineffizient, weil eine hohe Chance verspielt würde, ein zusätzliches Menschenleben zu retten. Und doch ist das in etwa die Logik, die in Deutschland bei der Verteilung knapper Impfstoffe angewandt wird.


Jede Person, die hierzulande gegen Covid-19 geimpft wird, erhält bei der Erstimpfung einen Termin für die zweite Injektion, und die dafür nötige Dosis wird vielerorts zurückgelegt. In ihrer Empfehlung beruft sich die Ständige Impfkommission (StiKo) darauf, dass momentan offen sei, „ob man durch eine Verschiebung der Zweitimpfung ... und eine damit einhergehende Erhöhung der Anzahl der zumindest einmalig Geimpften tatsächlich mehr schwere Erkrankungen und Todesfälle verhindert als durch eine zeitnahe zweite Impfung der vulnerablen Hochrisikogruppen, welche dann zu einem nahezu vollständigen Schutz vor Erkrankung führt“.


Die Erfahrung gibt den Briten Recht


In Großbritannien sieht man das anders. Dort entschloss man sich dafür, den zweiten Impftermin großzügig zu schieben, um zunächst einmal möglichst viele Menschen mit einer ersten Impfung zu versehen. Mit dieser Strategie verbindet sich die Hoffnung, dass eine schnelle Erstimpfung für einen gewissen Schutz sorgt, sodass die Infektionszahlen und Todesfälle signifikant sinken.


Die Entwicklung der vergangenen Wochen gibt den Briten Recht. Obwohl es nach offiziellen Angaben seit Jahresbeginn im Königreich etwa dreimal so viele Infektionsfälle gab wie in Deutschland, haben sich die Todeszahlen mittlerweile angeglichen. Die wahrscheinlichste Ursache: In Großbritannien waren am 1. März bereits 20,5 Millionen Menschen mindestens einmal geimpft worden, in Deutschland dagegen nur 4,2 Millionen.


Anekdotische Belege sprechen auch hierzulande dafür, dass die britische Strategie funktionieren würde. Dies illustriert z. B. der Corona-Ausbruch in einer Seniorenresidenz in Herrischried (Landkreis Waldshut). Zehn Tage nachdem die Bewohner und Bewohnerinnen der Seniorenresidenz geimpft worden waren, ereignete sich ein Ausbruch. 21 Personen wurden infiziert, doch niemand starb, und die Infizierten – allesamt Hochrisikopersonen – hatten nur milde Symptome. Die Bewohner und Bewohnerinnen waren mit einer Impfdosis versorgt.


Die Daten einer neuen Studie aus Schottland stützen die Vermutung, dass bereits die erste Impfung einen sehr guten Schutz gegen schwere Verläufe von Covid-19 bietet. In einer vorläufigen Analyse von 5,4 Mio. Fällen kamen die Forscher/innen zu dem Schluss, dass die erste Dosis der Biontech/Pfizer-Vakzine die Krankenhausaufenthalte um 85 Prozent reduziert; bei Astra-Zeneca-Impfstoff betrug die Reduktion sogar 94 Prozent. Daten aus Israel bestätigen diesen Befund.


Warum also nutzen wir in Deutschland die zweite Impfdosis nicht, um eine weitere Person zu retten, so wie wir einen zweiten Rettungsring nutzen würden, um eine zweite Person vor dem Ertrinken zu bewahren?

Das Risiko der Mutationen ist hinreichend gering


Epidemiologisch bestand eine Sorge darin, dass die Verschiebung der zweiten Impfdosis den Mutationsdruck stark erhöhen würde. Inzwischen sind die meisten führenden Köpfe der internationalen Epidemiologie jedoch der Ansicht, dass dieses Risiko hinreichend gering wäre.


Ein zweiter Einwand besteht darin, dass die nur einmal Geimpften im Infektionsfall ansteckender wären als doppelt Geimpfte. Ob und inwieweit dies zutrifft, ist aber höchst unklar; es besteht auch das gegenteilige Risiko, dass 1000 Personen, von denen 500 doppelt und 500 gar nicht geimpft sind, in der Summe bedeutend mehr Infektionen verursachen würden als 1000 Personen, die allesamt einmal geimpft sind.


Vor allem ist zu betonen, dass diese Einwände die eingangs genannten Gerechtigkeits- und Effizienzargumente erst einmal übertrumpfen müssten. Diese Argumente wiegen schwer. Selbst wenn die Verschiebung der zweiten Impfdosis die Schutzwirkung von 95 auf lediglich 50 Prozent reduzieren würde (was unwahrscheinlich ist), ergäbe sich nämlich die folgende Alternative: Entweder schützt man von tausend Personen 500 zu 95 Prozent und 500 zu null Prozent. Oder man schützt alle tausend Personen zu 50 Prozent.


Die erste Option rettet statistisch weniger Leben, ist also ineffizient, und sie ist enorm ungerecht: Die Ungleichheit ist erheblich, die Schlechtestgestellten stehen viel schlechter da als in der zweiten Option.


60-Jährige haben mehr zu verlieren als 70-Jährige


Ein weiteres Gerechtigkeitsproblem wirft die Tatsache auf, dass die Impftriage mit einer verkürzten Definition der „Risikogruppe“ operiert. 70-Jährige beispielsweise werden der Risikogruppe viel zentraler zugerechnet als 60-Jährige. Tatsächlich haben die Ersteren im Infektionsfall eine ungefähr doppelt so hohe Sterbewahrscheinlichkeit wie die Letzteren. Daraus folgt aber noch nicht, dass ihr Risiko doppelt so hoch ist. Denn Risiken sind von mindestens zwei Größen abhängig: erstens von der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens, zweitens vom Schadensausmaß.


60-Jährige können geltend machen, dass ihr Schadensausmaß im Todesfall auch ungefähr doppelt so hoch ist wie jenes von 70-Jährigen: 60-Jährigen stehen im Schnitt noch fast 25 Jahre bevor, 70-Jährigen noch rund 15; die Dekade zwischen dem 60. und dem 70. Lebensjahr kann in der Regel vitaler zugebracht werden als die Jahre danach; und nicht zuletzt würden 60-Jährige im Todesfall zu den Schlechtergestellten bzw. Ärmeren gehören, denn 70-Jährige sind an Lebensjahren reicher.


Diese Umstände müssen risikoethisch ins Gewicht fallen, da sich Risiken nie nur über Wahrscheinlichkeiten bestimmen lassen. Entsprechend zählen 60-Jährige genauso zentral zur Risikogruppe wie 70-Jährige. Ihre Depriorisierung im Rahmen der Impftriage ist illegitim.


Diese Argumentation erfordert keine utilitaristischen Prämissen. Es werden zum Beispiel keine Menschenleben aufaddiert und verrechnet. Es wird lediglich festgestellt, dass für die 60-jährige Person im konkreten Fall mehr auf dem Spiel steht als für die 70-jährige Person. Dieser paarweise Vergleich dessen, was für verschiedene Personen auf dem Spiel steht, wird auch von kantischen und kontraktualistischen Ethiken angestellt. Andernfalls ließe sich zum Beispiel nicht urteilen, dass für eine Person mit unerträglicher Migräne mehr auf dem Spiel steht als für eine Person mit milden Kopfschmerzen, sodass die erstere vorrangig zu behandeln ist. Analog steht für eine Person, die zwanzig Jahre zu verlieren hat, mehr auf dem Spiel als für eine Person im hohen Alter, die zwei Jahre zu verlieren hat.


Hochbetagte Personen können geltend machen, dass sie einer besonders hohen Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sind, im Infektionsfall zu sterben. Jüngere können geltend machen, dass bei ihnen ein besonders hohes Schadensausmaß auf dem Spiel steht, weil der Tod oder die Langzeitfolgen einer Erkrankung ihnen viele vitale Lebensjahre rauben würden. Insgesamt spricht dies dafür, die „Risikogruppe“ auszudehnen und alle über 60-Jährigen nach dem gerechten und effizienten Prinzip „First Come, First Served“ zu impfen.


Es zählt jeder Tag – jede Verzögerung kostet Leben.


Adriano Mannino, Korbinian Rüger, Nikil Mukerji und Albrecht von Müller forschen an der Ludwig-Maximilians-Universität sowie an der Parmenides Stiftung im Bereich der Ethik, der Entscheidungstheorie und der politischen Philosophie.


Dieser Artikel erschien zuerst als Gastbeitrag in der FAZ.

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